Plattformen und Industrie 4.0: Interview mit Christoph Meinel, HPI

Stehen wir am Anfang des Plattform-Kapitalismus?

Ansgar Baums: Herr Professor Meinel, Sie beschäftigen sich seit Jahren intensiv mit der Frage, wie die Digitalisierung die Wirtschaft verändert. Lange schien dies ein evolutionärer Prozess zu sein – und auf einmal beschleunigt sich alles. Überraschen Sie die rasanten Entwicklungen der letzten Jahre?

Christoph Meinel: Die Digitalisierung der Wirtschaft birgt sicherlich große Herausforderungen für die deutschen Unternehmen und ihre Wettbewerbsfähigkeit sowie auch für die deutsche Gesellschaft, jedoch stehen hinter diesem Prozess auch riesige Chancen und Potenziale. Diese greift die Politik ja bereits mit der Digitalen Agenda auf und unterstützt den Prozess der Digitalisierung mit Programmen wie dem nationalen IT Gipfel zur Vernetzung von Politik und Wirtschaft und weiteren Förderprogrammen. Nach einer Studie des BITKOM sind 60% der Unternehmen in Deutschland bereits heute stark auf das Internet angewiesen und die Digitalisierung spielt eine zentrale Rolle innerhalb dieser Unternehmen. Leider kommen die großen Player dennoch meist aus den USA; hier ist sicherlich noch Potenzial für deutsche und europäische Unternehmen.

Spannend ist jedoch auch, wie weit die wirtschaftliche Digitalisierung in den privaten Alltag hinein reicht und wie grundlegend sich alltägliche Aktivitäten in den letzten Jahren gewandelt haben. Man denke nur an die digitale Kommunikation über soziale Netzwerke und Emails, online Einkaufen oder auch die allgegenwärtige Handykamera und welche neuen gesellschaftlichen Herausforderungen sich hierdurch ergeben.

Ansgar Baums: Sind wir als Gesellschaft auf die exponentiellen Entwicklungen der nächsten Jahre, die durch die Digitalisierung ausgelöst werden, vorbereitet? Intellektuell sind exponentielle Entwicklungen leicht nachvollziehbar – aber wenn sie tatsächlich stattfinden, ist nichts mehr wie es war.

Christoph Meinel: Nichts wird das Zusammenleben so sehr verändern wie die digitalen Technologien und deren Vernetzung untereinander. Neben den wirtschaftlichen Herausforderungen gibt es hier jedoch auch einen großen Einfluss auf gesellschaftspolitische Fragestellungen. Diskussionen hierüber werden momentan leider noch nicht in der nötigen Breite geführt. Insbesondere müssen Fragestellungen im Zuge der digitalen Vernetzung von Produktionsanlagen bis zur Datensicherheit, Ausbildung und Fragen der Europäisierung und Standardisierung diskutiert und bearbeitet werden. So sind sicherlich nationale Gesetzgebungen gefragt; das Internet ist jedoch global verteilt und somit werden europaweite Rahmenbedingungen und Standards von essentieller Bedeutung, zusätzlich ist der Schulterschluss mit den USA in dieser Thematik auch nicht zu vernachlässigen.

Auf der anderen Seite bewegen wir uns hier in einem Spannungsfeld zwischen Innovationen ermöglichenden Rahmenbedingungen und essentiellen Prinzipien wie dem Datenschutz. Wir müssen einen Weg finden, die digitale Selbstebestimmung zu ermöglichen – dies geht jedoch nur durch mündige Nutzer, welche ein gewisses gemeinsames technologsches Verständnis eint. So sind beispielsweise Schulungen von digitalem Verständnis, über sichere Paswörter und andere Grundprinzipien unerlässlich. Ein vielversprechendes Mittel hierbei sind sogenannte “Massive Open Online Courses“ (MOOCs), welche eine breite Masse erreichen können und somit stark zur digitalen Selbstbestimmung beitragen können.

Ansgar Baums: Es scheint so, als ob die Digitalisierung der Anwenderbranchen nicht nur zu neuen Produkten und Prozessen führt, sondern auch eine eigene „Logik“ des Wirtschaftens einführt: Industrie-Plattformen. Wie tiefgreifend sind diese Änderungen? Stehen wir am Anfang des „Plattform-Kapitalismus“?

Christoph Meinel: Interessanterweise suchen viele der frühen internetbasierten Unternehmensmodelle danach, Mittelmänner aus den Handelsketten zu entfernen und dadurch Produkte effizienter und günstiger an den Konsumenten zu bringen. Obwohl durch die Digitalisierung Handelsketten vereinfacht und verkürzt werden, beschreibt der neu aufgekommene Begriff „Plattform-Kapitalismus“ eine Wirtschaftsform, in der spezielle Plattform-Anbieter verstärkt als Mittelmänner auftreten. Es steht außer Frage, wie tiefgreifend diese Prozesse unsere Wirtschaft und Gesellschaft bereits verändern und weiter verändern werden. Ob man es nun als Plattform-Kapitalismus bezeichnet oder nicht, so zeichnet sich doch der Trend starker Plattform-Anbieter heraus, welche oft die Nachfrage zentral bündeln und hieraus eine starke Machtposition beziehen, besonders wenn auf Angebots-Seite viele kleine oder oft auch private Dienstleister stehen. Eine zentrale Aufgabe wird sicherlich darin bestehen, sich diese neuen Mechanismen und Strukturen auf der einen Seite frei entwickeln zu lassen, jedoch auf der anderen Seite gesellschaftsverträgliche Rahmenbedingungen sicherzustellen und das Gleichgewicht zu wahren.

Ansgar Baums: Eine der Kernthesen der Industrie 4.0-Debatte lautet, dass die deutsche Software-Branche, die ja seit jeher einen starken b2b-Fokus hat, besonders gute Startbedingungen habe, um Industrie 4.0 zu gestalten. Teilen Sie diese Einschätzung? Man könnte auch das Gegenteil behaupten: Software-Unternehmen, die besonders gut darin waren, „Pipeline-Märkte“ mit ERP-Software und ähnlichem auszustatten, sind nicht unbedingt gute Plattform-Entrepreneure.

Christoph Meinel: Die traditionellen Geschäftsmodelle werden sicherlich nicht von heute auf morgen verschwinden, aber es steht außer Frage, dass die Software-Branche sich in einem Umbruch befindet. Allerdings muss hier kritisch hinterfragt werden, wo nur neue Schlagworte auf bestehende Modelle gesetzt werden, und wo wirklich neuartige Modelle entstehen. Für große und etablierte Unternehmen ist es keine leichte Entscheidung ein funktionierendes Geschäftsmodell aufzugeben und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und aufzubauen, die mit großen, z.T. unkalkulierbaren Risiken und Unsicherheiten behaftet sind, gleichzeitig jedoch große Potentiale für die Zukunft bieten. Genau dies ist auch Kern des bekannten Buches „The Innovator’s Dilemma“ von Clayton Christensen, welches beschreibt, wie große Unternehmen zu stark auf die Bedürfnisse der Kunden von heute setzen und es dabei verpassen können, auf neue Technologien oder Geschäftsmodelle zu reagieren.

Christensen behauptet, dass etablierte Unternehmen daher zwangsläufig durch disruptive Innovationen von neuen Konkurrenten verdrängt werden, da große Organisationen inhärent Innovationen behindern. Es gibt sicherlich Beispiele, wie auch große Organisationen Innovationen hervorgebracht haben, interessanterweise lässt sich hierbei jedoch beobachten, dass dies oft zuerst in einem stark abgekapselten und geschützten Bereich passiert, bis Ideen oder Produkte gereift und gefestigt sind, um sich auch im Unternehmen behaupten zu können. Mit Blick auf die Fragestellung, wie deutsche Software-Unternehmen zu guten Plattform-Entrepreneuren werden können, scheint es hier wichtig, sowohl große Organisationen dabei zu unterstützen, solch riskante Veränderungen einzuleiten und durchzuführen, als auch kleine und neu gegründete Unternehmen zu unterstützen, um innovative Ideen und die Konkurrenz zu fördern.

Ansgar Baums: Angesichts der Bedeutung der Industrie-Plattformen stellt sich die „Klassiker“-Frage der Software neu: Gehört die Zukunft den proprietären oder den offenen Systemen?

Christoph Meinel: Das Ringen zwischen Verfechtern für offene Systeme und den Anhängern von proprietären Systemen ist scheinbar beinahe so alt wie die Software-Entwicklung selbst. Die Einführung von Industrie-Plattformen bringt sicherlich eine Verschiebung des Machtgefüges mit sich, jedoch gibt es sowohl erfolgreiche offene Plattformen wie auch geschlossene Plattformen. Geschlossene Plattformen schützen in der Regel die wirtschaftlichen Interessen einer Gruppe und ermöglichen eine effizientere Steuerung. Die zentrale Frage lautet hier aber nicht, ob offen oder proprietär, es wird zwangsläufig hinauslaufen auf eine Kombination abhängig von Anbietern, Branchen und Umständen. Entscheiden ist vielmehr die Diskussion, ob entstehende Plattformen neue Monopole bilden und Machtverhältnisse verschieben, wie diese gesellschaftliche Fragestellungen und Prozesse beeinflussen und wie hiermit umgegangen werden soll.

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Prof. Dr.sc.nat. Dr.rer.nat. Christoph Meinel (1954) ist wissenschaftlicher Direktor und Geschäftsführer des Hasso-Plattner-Instituts für Softwaresystemtechnik GmbH (HPI) und ordentlicher Professor (C4) für Informatik an der Universität Potsdam. Am HPI leitet er das Fachgebiet für Internet-Technologie und Systeme. Meinel ist Mitglied der acatech, der Nationalen Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, Leiter von openHPI, der sozialen Online-Lernplattform des HPI, und Programm-Direktor des HPI-Stanford Design Thinking Research Program.

 

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