Ansgar Baums
Grundlagen
Definition
Immer größere Teile der Wirtschaft bauen klassische „Pipeline“-Märkte zu „Plattform-Märkten“ um. Digitale Plattformen werden zur dominierenden Markt-Architektur unserer Zeit werden. Die Digitalisierung ist einer der Haupttreiber dieser Entwicklung: Software-Plattformen werden immer mehr zu den „unsichtbaren Motoren“ unserer Wirtschaft. Es gibt Stimmen, die gar vom Beginn des „Plattform-Kapitalismus“ sprechen.
Plattformen sind in der Wirtschaft kein neues Phänomen. Automobil-Hersteller verwenden schon länger Produktplattformen für verschiedene Automodelle, um Kosten zu senken. Neben diesen traditionellen Produkt-Plattformen, hat sich aber insbesondere durch die Digitalisierung eine neue Art von Plattform-Ökonomie entwickelt. Auf digitalen Plattformen organisieren sich ganze – oder zumindest Teile von – Industriesektoren.
Ganz abstrakt können digitale Plattformen definiert werden als Produkte, Dienstleistungen oder Technologien, die als Basis für eine Vielzahl von Firmen dienen, um komplementäre Produkte, Dienste und Technologien anzubieten.
„Plattformisierung“ bedeutet übrigens nicht unbedingt, dass pro Marktsegment nur eine Plattform existieren kann. Es können durchaus mehrere konkurrierende Plattformen existieren – so zum Beispiel im Gaming-Markt (xBox, Wii, Playstation) oder Fluggesellschafts-Allianzen (Star Alliance, One World). Es ist auch möglich, dass Plattformen in einander verschachtelt sind – also ein Plattform-Kontributor aus der Peripherie selber eine eigene Plattform betreibt, die einen Dienst für erstere Plattform darstellt. Dies ist beispielsweise beim PC der Fall. Hier kann man geradezu von einer „Selbstähnlichkeit“ von Plattformen sprechen: Ein Architekturmerkmal wiederholt sich auf unterschiedlichen Ebenen immer und immer wieder.
Strukturelemente
Digitale Plattformen bestehen aus zwei Teilen:
- Einem „Kern“, der stabil ist und sich nur langsam verändert – in unserem Beispiel also der App-Store selber. Dieser Kern stellt die eigentliche Plattform dar, indem er die technischen und betriebswirtschaftlichen „Spielregeln“ wie Schnittstellen und Prozesse definiert. Die Stabilisierung und Wiederverwendung der Kernkomponenten führt zu Skaleneffekten und reduziert die Kosten für die Varietät, die durch den zweiten Teil – die Peripherie – zu Verfügung gestellt werden.
- Einer „Peripherie“, die eine hohe Entwicklungsgeschwindigkeit und Heterogenität aufweist. Im App-Store- sind diese Peripherie die App-Entwickler und ihre Dienste. Die Unternehmen in der Peripherie bilden eine Art Ökosystem der Plattform. Sie treten unter einander nicht notwendigerweise in Geschäftsbeziehungen, sondern sind oft unabhängige Teilnehmer der gleichen Plattform.
Varianten
Plattform ist nicht gleich Plattform – sie können äußerst unterschiedliche Ausprägungen annehmen, insbesondere hinsichtlich der Rechte der beteiligten Akteure. Diese Rechte können zwischen den Teilnehmern abgestuft sein. Diese Abstufung ist kein binäres System („offen“ oder „geschlossen“), sondern ein Kontinuum. Die verschiedenen Variationen werden deutlich, wenn man die vier an einer digitalen Plattform beteiligten Akteure getrennt betrachtet. Die Grafik listet die vier Akteure und stellt existierende Plattform-Modelle bezüglich ihrer Offenheit bzw. Geschlossenheit schematisch dar.
Technologie
Für die Analyse der Plattformen ist es hilfreich, ein grobes Schema anzulegen, in dem die grundlegenden technischen Bausteine einer solchen Plattform deutlich werden. Die Grafik unterscheidet zwischen Daten-Input, Datenaggregation und Datenverwertung. Entscheidend für die digitalen Plattformen der Zukunft ist, dass der Dateninput heterogen ist – sowohl hinsichtlich der Formate („unstrukturierte“ Daten) als auch der Quellen: Offene Daten aus dem Internet (zum Beispiel Wetterdaten) werden verbunden mit Daten aus Endgeräte (zum Beispiel der Aufenthaltsort einer Person, übermittelt durch das Mobile Phone), Daten von Maschinen (gemessen und übermittelt durch Sensoren) sowie Daten aus installierten IT-Systemen (zum Beispiel CRM oder ERP-Software).Diese Daten werden aggregiert.
Die Aggregation kann ganz unterschiedlich gestaltet sein – sie kann an einem physischen Ort stattfinden, aber auch dezentral organisiert werden. Entscheidend ist die Funktionalität: Daten werden hier durch die Definition betimmter Regeln (zum Beispiel durch „APIs“, aber auch Sicherheitsregeln) zugänglich gemacht für die Datenverwertung.
Akteure
Gruppen
Hinsichtlich der beteiligten Akteure können vier verschiedene Gruppen unterschieden werden:
- Die Endnutzer: sie sind die eigentlichen Kunden der Plattform und nutzen diese für ihre eigenen Zwecke – sei es der Smartphone-Nutzer oder ein Industrie-Unternehmen, das sein Geschäft mit Hilfe einer solchen Plattform betreibt.
- Die Applikations-Entwickler (Peripherie): Sie entwickeln auf Grundlage der technologischen Plattform Programme und Dienstleistungen.
- Die Plattform-Anbieter (Kern): Sie stellen die technische Infrastruktur der Plattform zu Verfügung. Im IT-Bereich ist diese ein Paket aus Hardware und Betriebssystem, auf dessen Grundlage Programme entwickelt werden können.
- Die Plattform-Sponsoren (Kern): Sie sind die eigentlichen „Leader“ der Plattform als solches, da sie das Design der Plattform bestimmen und ihnen das geistige Eigentum der Plattform gehört.
Am Beispiel des Smartphones werden diese Rollen deutlich: Im Falle eines Google-Smartphones ist Google der Plattform-Sponsor (Design des Android-Betriebssystems) und tritt auch als Plattform-Anbieter auf (Betrieb des Android-Betriebssystems und des Playstores). Applikationsentwickler sind jene, die ihre Apps im Playstore zu Verfügung stellen, die Endnutzer sind die Smartphone-Kunden. Plattform-Sponsor und Plattform-Betreiber können das gleiche Unternehmen sein, müssen es aber nicht!
Neben den App-Stores im Smartphone-Bereich gibt es zahlreiche weitere Beispiele für Industrie-Plattformen. Das Internet selbst kann ebenso als Plattform-Markt beschrieben werden wie die PC-Architektur, Gaming-Konsolen (xBox, Wii, Playstation) oder Linux.
Auch außerhalb der IT-Wirtschaft finden sich zahlreiche Beispiele wie Kreditkarten-Bezahlsysteme oder Zusammenarbeiten bei komplexen Technologieprojekten wie Flugzeugturbinen. Das heißt: Industrie-Plattformen sind nicht immer digitale Plattformen – es wird sich jedoch zeigen, dass digitale Technologien die Herausbildung solcher Plattform-Märkte fördert und beschleunigt.
Verhältnis zwischen den Akteuren
Das Verhältnis der Akteure untereinander ist komplex. In der Literatur werden Industrie-Plattformen auch als „Two-Sided Markets“ beschrieben, da die Plattform zwei unterschiedliche Nutzergruppen zusammenbringen. Industrie-Plattformen unterliegen starken Netzwerk-Effekten: Solange alle anderen Umstände unverändert bleiben, steigt der Nutzen für den einzelnen Teilnehmer und die Endnutzer, je mehr zusätzliche Teilnehmer die Plattform nutzen. Dieses Merkmal kann man als Netzwerkeffekte, Netzwerkexternalitäten oder positive Skaleneffekte auf Nachfragerseite bezeichnen. Je mehr Akteure bereits an der Plattform teilnehmen, umso attraktiver wird sie.
Für ein Start-Up, das ein Plattform-Geschäftsmodell betreibt (wie zum Beispiel eine Social Network oder einen Chat-Dienst), ergibt sich aus dieser Tatsache ein für traditionelle Investoren seltsames „Geschäftsgebahren“: Insbesondere in der Frühphase ist schnelles Wachstum und „Outreach“ wichtiger als alles andere! Beispiele wie Facebook zeigen, dass dieses Wachstum für die Bewertung eines Start-Ups entscheidend ist, nicht etwa ein voll entwickeltes Geschäftsmodell. Oft wachsen diese Plattformen, ohne dass die Monetarisierungsfrage abschließend geklärt ist – getreu dem Motto: Wenn eine Plattform erstmal etabliert ist, wird sich schon ein Geschäftsmodell finden.
Treiber der Plattformisierung
Innovationsmanagement
Durch die Trennung zwischen einem stabilen Kern und einer sehr flexiblen Peripherie können neue Dienste schnell entwickelt werden. Innovation entsteht in diesem Kontext in der erfolgreichen Rekombination vorhandener Technologiebausteine zu einem neuen Geschäftsmodell, für das die Skalierungskosten aufgrund der Plattform-Architektur gering sind: Industrie-Plattformen lösen das Skalierungsproblem für den einzelnen Entwickler, da sie direkten Zugang zu einem großen Markt haben. Ein Entwickler kann mit seinem Programm im App Store von jetzt auf gleich mehrere Millionen Nutzer erreichen. Ohne Plattform würde diesen Kosten wesentlich höher liegen und de facto als Innovationsbarriere wirken.
Flexibilisierung
Das im Kontext von Industrie 4.0 definierte Ziel einer „Lösgröße 1“ ist nur dann möglich, wenn die Technologieplattform die im Produkt vorgesehene Individualisierung mit einer hohen Skalierbarkeit verbindet. Industrie-Plattformen bieten hierzu die besseren Voraussetzungen, beides zu verbinden, da sie aufgrund ihrer eigenen Logik modular aufgebaute Produkte anstelle hoch integrierter Produkte fördern. Nicht alle Produkte oder Dienste können zu Plattformen entwickelt werden. Plattform-geeignete Produkte müssen ein technologisches oder geschäftsmodellseitiges Kernproblem lösen – und einfache Schnittstellen zu komplementären Diensten oder Produkten aufweisen.
Genese
Wie entstehen Plattformen?
Digitale Plattformen bauen ist schwierig. Unternehmen müssen weitreichende Entscheidungen in Situationen großer Unsicherheiten treffen: Zum Zeitpunkt der Überlegungen, ob ein Markt als Plattform gestaltet werden soll, liegen zumeist nur wenige Informatione darüber vor, ob dies auch funktioniert. Hinzu kommt, dass das Aufbauen solcher Plattformen nicht zum Standard-Repertoire von Unternehmen gehört – man baut diese nicht regelmäßig, sondern eher selten auf.
Klar ist, dass sich Strategien zum Aufbau von Plattformen deutlich von „Pipeline-Strategien“ unterscheiden, insbesondere bezüglich des Ökosystems, das ja ein strategischer Partner beim Plattformaufbau ist.
Die Analyse der Geschichte existierender Plattformen legt nahe, dass es zwei verschiedene Wege zu Plattformen gibt: eine evolutionäre Entwicklung aus existierenden Produkt- oder Supply Chain-Plattformen heraus, oder aber eine komplette Neuentwicklung. Außerdem scheint es zwei verschiedene Plattform-Treiber zu geben: Plattform-Entrepreneure sowie Plattform-Konsortien.
Evolution vs. Revolution
Plattformen innerhalb von Unternehmen („Produktplattformen“) sowie Beschaffungsketten („Supply Chain Platforms“) sind schon länger bekannt. Einige der heute bekannten Industrie-Plattformen haben sich evolutionär aus diesen vorhandenen Plattformen entwickelt – wie zum Beispiel der PC.
Diese Evolution scheint allerdings nicht der einzige Weg zu einer digitalen Plattform zu sein. Auch in diesem Bereich ist Disruption möglich. Insbesondere in den letzten Jahren entwickelt sich ein Trend, in dem vorhandene Plattformen auf immer neue Industriezweige ausgeweitet werden – wie zum Beispiel die Nutzung der ursprünglich für Smartphones entwickelten Plattformen im Bereich der Content-Industrie (Musik) und die Integration in Auto-Entertainment-Systeme.
Reifung von Plattformen
Plattformen sind nicht statisch, sondern entwickeln sich weiter – wahrscheinlich in ganz unterschiedlicher Art und Weise:
- Envelopment: Innerhalb von Plattformen kann sich die Grenze zwischen Kern und Ökosystem verschieben. So ist es weit verbreitet, dass Funktionalitäten, die ursprünglich in der Peripherie angeboten wurden, in den Kern der Plattform integriert werden – der Kern „frisst“ ein Teil des Ökosystems („cross-layer envelopment“). Beispielhaft hierfür ist die Integration eines Media Players in das Windows-Betriebssystem ab Version 95.
- Öffnung: Plattformen, die durch neue technologische Entwicklungen unter Druck stehen, tendieren zur Öffnung – mit dem Ziel, die Attraktivität der Plattform für das Ökosystem zu erhöhen.
- Ablösung: Plattformen können auch redundant werden und komplett abgelöst werden. Auch dies wird durch den technologischen Wandel verursacht. Die VHS-Plattform wurde weitestgehend durch die DVD-Plattform weitestgehend redundant – welche wiederum gerade durch die Bluray-Plattform abgelöst wird. Dem gegenüber weist die PC-Plattform eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit auf und ist nach wie vor relevant.
Werden Plattformen zu Monopolen?
Die Plattformstruktur der Märkte führt zu ganz unterschiedlichen Wahrnehmungen bezüglich der Machtstrukturen.
Kritiker der Plattformisierung sehen vor allem die Monopolisierung der Märkte als große Gefahr. Sie schauen dabei vor allem auf den „Kern“ der Plattform – also den Plattform-Betreiber oder –Sponsor. Andere wiederum sehen in der Entwicklung der Plattform-Märkte eine Verstärkung des Wettbewerbs – „The World is Flat“. Dieses Argument bezieht sich vor allem auf die Peripherie. In der Tat sind die Markteintrittshürden für neue Wettbewerber gerade bei relativ offenen Plattformen sehr gering. Bestes Beispiel ist das Angebot in Mobile Phone-App-Stores: Für jede erdenkliche Anwendung gibt es nicht eine, sondern meistens eine Vielzahl von Angeboten. Autoren wie Steven Johnson sehen hierin eine zentrale Innovationsfunktion der Plattformen.
Beide Perspektiven haben gleichzeitig ihre Berechtigung. So kann eine Plattform für einen Endkunden ein extrem vorteilhafter Markt sein, da viele Angebote herrschen. Gleichzeitig kann die Situation für die Peripherie-Anbieter in ihrer Beziehung zum Plattform-Betreiber aufgrund dessen „Monopolmacht“ sehr schwierig sein – das ist ein Kennzeichen von „Two-Sided Markets“.
In diesem Kontext wird die Attraktivität des Plattform-Baus für Unternehmen noch einmal deutlich. Peter Thiel hat in seinem Buch “Zero to One” zu Recht darauf hingewiesen, dass sehr kompetitive Märkte aus Unternehmenssicht nichts erstrebenswert sind, sondern vielmehr temporäre Monopolstellungen durch Technologieführerschaft. Plattformen bieten die Möglichkeit, eine strategische Position einzunehmen und Extrem-Wettbewerb zu vermeiden.
Literatur & Quellen
Allgemein
David Evans | Andrei Hagiu | Richard Schmalensee (2006): Invisible Engines. How Software Platforms Drive Innovation and Transform Industries. Cambridge. Download hier.
David Evans (2011): Platform Economics. Essays on Multi-Sided Businesses. Link
Annabelle Gawer (2010): Platforms, Markets, and Innovation. Cheltenham | Northampton.
Phil Simon (2013): The Age of The Platform. How Amazon, Apple, Facebook, and Google Have Redefined Business. Henderson. Link
Theorie
Annabelle Gawer (2010): Towards a General Theory of Technological Platforms. Link
Annabelle Gawer | Michael Cusumano (2012): Industry Platforms and Ecosystem Innovation. Link
Steven Johnson (2010): Where Good Ideas Come From. The Natural History of Innovation. Cambridge. Link
Tatsuyuki Negoro | Satoshi Ajiro (2012): An Outlook of Platform Theory Research in Business Studies. Waseda Business and Economic Studies 48. Link
Jean-Charles Rochet | Jean Tirole (2005): Two-Sided Markets: A Progress Report. Link
Betriebswirtschaft
Kevin Boudreau (2008): Open the Platform vs. Open the Complementary Good? The Effect on Product Innovation in Handeld Computing. Link
Thomas Eisenmann | Geoffrey Parker | Marshall Van Alstyne (2006): Strategies for Two-Sided Markets. IN: Harvard Business Review, Oktober 2006. S. 92-101. Link
Marco Iansiti | Roy Levin (2004): The Keystone Advantage: What the New Dynamics of Business Ecosystems Mean for Strategy, Innovation, and Sustainability. Boston.
Joel West (2003): How Open is Open Enough? Melding Proprietary and Open Source Platform Strategies. IN: Research Policy 32, 7. S. 1259-1285.
Fallbeispiele
Webseiten
Die Webseite www.platformed.info beschäftigt sich intensiv mit dem Plattformisierungsprozess, vor allem aus einer betriebswirtschaftlichen Sicht. Vgl. vor allem das Interview mit Sanjeet Choudary auf “Tech Node” „Platforms are eating the world“.
Das Center for Global Enterprise widmet sich mit einem Research-Programm dem Thema Plattformen.
Die Webseite www.platformeconomics.org beschäftigt sich mit der ökonomischen Theorie von Industrieplattformen.
Webseite von Annabelle Gawer (Imperial College) mit Fokus Plattform-Ökonomie.
Social Media Accounts
Marshall van Alstyne, Boston University & MIT
Sangeet Choudary, MIT
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