Was bedeuten die skizzierten Entwicklungen für die Industrie? Wie wird Industrie 4.0, definiert in weiterem Sinne als Digitalisierung von Wertschöpfungsketten, den Arbeitsmarkt verändern? Die Folge von Industrie 4.0 wird nicht einfach sein, dass eine zweite Automatisierungswelle durch die Fabriken rollt und die letzten Fließband-Jobs ersetzt. Die Veränderungen in den Industrieunternehmen werden diesmal – wie in der gesamten Wirtschaft – noch tiefer greifen und alle Bereiche im Unternehmen und alle Beziehungen zu Zulieferern, Partnern und Kunden erfassen. Dabei wird sich das, was oben für den gesamten Arbeitsmarkt beschrieben wurde, je Unternehmen beziehungsweise je Branchenplattform abspielen: Nicht mehr nur Routinetätigkeiten, sondern alle automatisierbaren Tätigkeiten werden im Gefolge des technischen Fortschritts hin zur Künstlichen Intelligenz automatisiert werden. Dabei werden, wie beschrieben, ganze Wertschöpfungsketten zu digitalen Plattformen zusammengefasst.
Das wird massive Investitionen erfordern. Bisher ist der Anteil der IKT-Investitionen an den Bruttoanlageinvestitionen (ohne den Wohnungsbau) in Deutschland niedriger als in anderen großen Industriestaaten: Er ist von 17,3 Prozent im Jahr 2000 auf nur noch 12,7 Prozent 2010 gesunken und lag damit zwar höher als in Italien und Südkorea, aber weit niedriger als in den USA, wo er sich seit 2000 bei knapp einem Drittel gehalten hat.[1] Immerhin liegt Deutschland innerhalb der EU beim Einsatz öffentlicher Mittel in der Forschung und Entwicklung im IT-Bereich vorn: Mit 1,21 Milliarden Euro war der Betrag zuletzt so hoch wie in Großbritannien und Frankreich zusammen.[2]
Der verstärkte IT-Einsatz und die Automatisierung haben in den vergangenen 20 Jahren dazu geführt, dass die deutsche Industrie ihren Anteil an der Wirtschaftsleistung hielt, während ihr Anteil an der Beschäftigung schwand. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist der Anteil der Industriearbeitnehmer an allen Erwerbstätigen in Deutschland von 32 auf 25 Prozent gesunken. Zugleich blieb aber der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung mit 22 Prozent stabil. Das zeigt die Rationalisierung, die in der Industrie bereits stattgefunden hat.
Der durch die hohen Arbeitskosten im Inland und die immer schärfere Konkurrenz auf dem Weltmarkt ausgeübte Druck hat also Industriearbeitsplätze gekostet, aber die Unternehmen gestärkt. Die deutsche Industrie hat sich zum Multi-Spezialisten mit tausenden von Weltmarktführern in kleinen und kleinsten Nischen und zum Weltmeister der permanenten Innovation entwickelt. Die Chance, die die Öffnung des Eisernen Vorhangs 1989 brachte, hat sie konsequent genutzt und Produktion nach Ost- und Mitteleuropa ausgelagert, um das dortige gut ausgebildete, aber preiswerte Arbeitskräftepotenzial zu nutzen und damit ihre Gesamtkosten zu drücken.
Bedeuteten schon die Automatisierung und die Verlagerung von Produktion ins Ausland in den vergangenen Jahrzehnten einen erheblichen Wandel in den Unternehmen, der mit vielen Ängsten verbunden war, so wird Industrie 4.0 den Belegschaften voraussichtlich noch mehr Veränderungsbereitschaft abverlangen. Das gilt besonders für eine Gruppe von Berufstätigen, die nicht nur den Kern der Industriebelegschaften, sondern auch einen wesentlichen Kern der deutschen Mittelschicht bilden: die im internationalen Vergleich gut ausgebildeten und bezahlten Facharbeiter und Meister.
Ihnen wird die Digitalisierung aller Prozesse zum Teil die Arbeitsplätze, aber darüber hinaus auch die Entscheidungsspielräume nehmen. Den damit verbundenen kulturellen Wandel beschreibt der Kommunikationsexperte Joachim Klewes so: „Viele Entscheidungen über Prozesse und Prioritäten fallen nicht mehr bei Managern und Mitarbeitern vor Ort. Sondern sie werden – zeitlich vorgelagert – in komplexe Algorithmen eingebunden. Diese können nur eine kleine Elite von hochgradig spezialisierten Experten entwickeln und durchschauen.“[3] Anwendungswissen werde also durch Prozesswissen ersetzt. Die Industrie wird ihre Belegschaften umkrempeln müssen – zum Teil fortbilden, zum Teil erneuern. Der Chance auf dadurch entstehende Effizienzgewinne steht das Risiko einer weitgehenden Entfremdung qualifizierter und spezialisierter Arbeitskräfte von ihrer Tätigkeit gegenüber. Die damit einhergehenden Veränderungsprozesse werden die Industrie auf Jahre hinaus beschäftigen.
Doch den Risiken stehen auch beträchtliche Chancen gegenüber. Zum einen dürfte die nächste Digitalisierungswelle „die internationale Arbeitsteilung neu sortieren“, wie Dalia Marin argumentiert.[4] Die Industrie werde sich aus Billiglohnländern zurückziehen und nach Deutschland zurückkehren. Das werde allerdings nicht zu einem Beschäftigungsaufbau führen, weil gleichzeitig Arbeit durch Kapitel ersetzt werde. Für Industriestaaten mit wachsender Bevölkerung wie die USA oder Großbritannien wäre eine solche Entwicklung ein Problem, das zu einer steigenden oder sich verfestigenden Arbeitslosigkeit führen könnte. Ein noch größeres Problem hätten bevölkerungsreiche Schwellenländer: Sie müssten wählen, ob sie an personalintensiver einfacher Industrieproduktion festhalten und damit Arbeitsplätze sichern oder ob sie den Entwicklungspfad zum Hochtechnologie-Produzenten weiter gehen und damit Massenarbeitslosigkeit riskieren wollen.
Deutschland allerdings könnte diesen denkbaren negativen Arbeitsmarkteffekten recht gelassen entgegen sehen. Im Gegenteil würde eine weitere Substitution von Arbeit durch Kapital in der Industrie helfen, die unausweichliche demografische Entwicklung zu bewältigen. Schließlich wird die Bevölkerung im Erwerbsalter (20 bis 65 Jahre) in Deutschland von 2020 bis 2060 laut der amtlichen Vorausberechnung von 48 auf nur noch 33 bis 36 Millionen schrumpfen.[5] Das heißt: mindestens jede vierte Arbeitskraft geht verloren. Damit wäre ein geringerer Arbeitskräftebedarf der Industrie ein Segen für den Arbeitsmarkt. Wenn Industrie 4.0 in Deutschland zu einem Produktivitätsschub führt, dann wäre dieser hoch willkommen, um der Wirtschaft des Landes trotz einer schrumpfenden Bevölkerung auch in kommenden Jahrzehnten Wachstum zu ermöglichen.
Die Spaltung – oder besser Polarisierung – des Arbeitsmarktes dürfte sich gleichzeitig allerdings verstärken. Am oberen Ende der Einkommensskala würde es einen wachsenden Bedarf an hoch qualifizierten Arbeitskräften geben – was nicht heißt, dass eine steigende Zahl von Akademikern automatisch eine der Qualifikation angemessene Beschäftigung finden wird. Die alternde Bevölkerung und die wachsende Zahl der gut verdienenden Hochqualifizierten werden mehr persönliche Dienstleistungen nachfragen, wodurch am unteren Ende der Lohnskala weitere Arbeitsplätze entstehen dürften. Die zunehmende Knappheit von Arbeitsplätzen dürfte dann auch hier die Einkommen steigen lassen. Problematisch wird es für die Mitte – auf diese Trends muss das Ausbildungssystem rechtzeitig reagieren.
[1] Vgl. OECD (2013): IKT-Investitionen. Die OECD in Zahlen und Fakten 2013: Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft, OECD Publishing. (http://dx.doi.org/10.1787/factbook-2013-65-de).
[2] Vgl. European Commission (2014): Sweden at Head of Pack on Digital Research Funding. Press Release, 05.06.2014. (http://europa.eu/rapid/press-release_IP-14-635_de.htm).
[3] Vgl. Joachim Klewes (2014): Industrie 4.0: Warum niemand wirklich vorbereitet ist. (http://www.wiwo.de/unternehmen/industrie/industrie-4-0-warum-niemand-wirklich-vorbereitet-ist/10769746.html).
[4] Vgl. Dalia Marin (2014): Die brillanten Roboter kommen. IN: Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.11.2014.
[5] Statistisches Bundesamt (2009): Bevölkerung Deutschlands bis 2060. 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, S. 18.