Thomas Ramge, Brandeins
Die Geschichte
1911 veröffentlichte Frederick Winslow Taylor sein Buch „The Principles of Scientific Management“ und wies den Industriellen den Weg zur Massenproduktion durch Arbeitsteilung. Dieser Weg wurde zunächst Rationalisierung, später Taylorismus genannt. Normung spielte dabei eine wichtige Rolle, denn nur dank der Vereinheitlichung von Bauteilen, Schnittstellen und später auch der Zusammenarbeit mehrerer Unternehmen wurde arbeitsteilige Produktion im großen Stil möglich. Und damit die Vervielfachung von Ware und Profit. Im von Taylor genormten Schreibtisch fand die Idee ihre groteske Übertreibung, aber grundsätzlich galt und gilt, was Günther Luxbacher, Technikhistoriker an der Technischen Universität Berlin, sagt: „Die Erfolgsfaktoren der Massenproduktion waren sinkende Preise und gleichbleibende Qualität. Normung hilft bei beidem.“
Im Rückblick wirkt das wie zwingende Logik. Doch die Vorkämpfer der Normung hatten es mit einem Grunddilemma der Marktwirtschaft zu tun, für das es noch keine Lösung gab: Wie kooperieren Unternehmen, die zueinander in Konkurrenz stehen? Und zwar so, dass ein allgemeiner Vorteil entsteht und der Wettbewerb dennoch nicht ausgehebelt wird? Die ersten Versuche der systematischen Branchenkooperation unternahmen die technisch-wissenschaftlichen Vereine. Der Verband Deutscher Elektrotechniker gab 1896 die sogenannten VDE-Vorschriften zu Kabelschuhen und Klemmschrauben heraus. Nach der Jahrhundertwende und im Geist der US-amerikanischen Rationalisierungstheoretiker wurden massenhaft Normierungs-Clubs gegründet.
Der Nutzen von vielen sich widersprechenden Standards ist begrenzt. Es brauchte also zunächst Institutionen, die neutral waren und anerkannt wurden, um als Moderator aufzutreten. In Deutschland wurde zu diesem Zweck am 22. Dezember 1917 der Normenausschuss der Deutschen Industrie gegründet, der Vorläufer des heutigen Deutschen Instituts für Normung (DIN).
Dieser Artikel ist in veränderter Form in Brandeins erschienen.
Das Prinzip
Markus Reigl leitet bei Siemens die Abteilung für Normung mit rund zwei Dutzend Mitarbeitern, die wiederum 3000 Experten koordinieren, die an Normungsprozessen beteiligt sind. Wenn Reigl sein Fach beschreibt, fallen oft die Begriffe Vertrauen, Transparenz und Einigung. Die Kurzfassung: In einem Normungsverfahren einigen sich die sogenannten interessierten Kreise auf Mindestanforderungen für Produkte, Prozesse oder Dienstleistungen. Zu diesen Kreisen gehören nicht nur die Hersteller und deren Verbände, sondern alle, die sich selbst für zuständig erklären. Das können neben Wissenschaftlern und Ministerialbeamten zum Beispiel Vertreter von Umweltverbänden sein, Verbraucherschützer oder Gewerkschafter.
Die im Normverfahren festgelegten Mindestanforderungen beziehen sich meist auf Gebrauchstauglichkeit, Umweltschutz, Sicherheitsmerkmale und die Möglichkeit, Produkte in ein übergeordnetes technisches System (zum Beispiel ein Schienen-, Strom- oder Mobilfunknetz) zu integrieren oder mit anderen Geräten zu kommunizieren. Markus Reigl nennt das Interoperabilität. Und betont: „Nicht normiert werden Verwendungsmöglichkeiten, Leistungsmerkmale und Preis. Also nichts, was die Differenzierungsmerkmale im Wettbewerb ausmacht.“ Für einen Fiat 500 und einen Porsche Carrera gelten vom Benzineinfüllstutzen bis zum Auslösemechanismus für den Beifahrer-Airbag die gleichen Normen. Dennoch handelt es sich um grundsätzlich unterschiedliche Produkte. „Wenn man sich auf die normativ festlegbaren Grundlagen geeinigt hat“, sagt Reigl, „steigt bei der Ausgestaltung der Produktmerkmale die Intensität des Wettbewerbs. Und das wirkt innovationsbeschleunigend.“
Womit er beim zentralen Punkt ist. Die Erfindung wird laut Joseph Schumpeter zur Innovation, wenn sie in Produkte mündet, die auf dem Markt erfolgreich sind. „Normung hilft, dass Märkte überhaupt entstehen können“, sagt Reigl. Damit ist gemeint: Nur wenn Kunden davon ausgehen können, dass ein neuartiges Produkt Mindeststandards bei Qualität und Sicherheit erfüllt und mit anderen Geräten harmoniert, werden sie es kaufen. Und nur wenn dieses Vertrauen vorhanden ist, investieren Hersteller in die neue Technik. Mit anderen Worten: Normen sind der Versuch, das klassische Henne-Ei-Problem der Technikgeschichte zu lösen.
Daran hat sich seit Erfindung der Glühbirne mit Anforderungen an Stromspannung und Schraubgewinde nichts geändert. Das sieht man, im Guten wie im Schlechten, am Beispiel Mobilfunk. Der GSM-Standard gehört zu den großen Erfolgsgeschichten der europäischen Normierer der vergangenen Jahrzehnte. GSM stand ursprünglich für „Groupe Spéciale Mobile“. 26 europäische Telekommunikationsunternehmen gründeten sie 1982, um die technische Grundlage für einen europäischen Mobilfunkmarkt zu legen. Sieben Jahre später erhielten in Deutschland die Deutsche Bundespost und Mannesmann die Lizenz, ein Mobilfunknetz auf GSM-Basis aufzubauen, die sogenannten D-Netze. Die Hersteller von Mobiltelefonen wussten von nun an, was sie zu tun hatten. Und konnten diese europaweit vertreiben, da nun auch in Spanien, Italien und Frankreich mit GSM gefunkt wurde.
Ein Massenmarkt entstand, und weil das alles technisch und wirtschaftlich gut funktionierte und keiner eine bessere Lösung hatte, breitete sich der Standard rund um den Globus aus. Die USA, Japan, Korea und rund 200 andere Nationen übernahmen die technischen Spezifikationen der Europäer. Ab 1991 standen die drei Buchstaben GSM dann für Global System for Mobile Communication.
Ganz anders die Entwickler von Elektroautos: Sie haben eine solche Weitsicht bislang vermissen lassen. In der Branche herrscht technische Kleinstaaterei. Besonders deutlich zeigt sich das bei den Ladesteckern der Typen 1 (USA und Japan), 2 (Deutschland und nun auch Italien) und 3 (der französische Sonderweg mit einer Abdeckklappe, die inzwischen auch für Typ 2 verfügbar ist, was aber trotz grundsätzlicher Einigung auf eine europäische Norm in der Praxis nur wenig an der französischen Haltung ändert). Damit machen die Automobilhersteller nicht nur den Entwicklern von Ladevorrichtungen das Leben schwer, sondern auch den Kunden, die schon im Inland nicht genau wissen, welche Stromtankstelle für ihr Fahrzeug die richtige ist und ob sie dort auch bequem bezahlen können. Die Fahrt über Landesgrenzen hinweg wird vollends zum Roulette.
Auch die Zulieferer hadern mit der Unentschlossenheit. Sie können keine standardisierten Bauteile für die Steuerungs- und die Leistungselektronik entwickeln und dann in Großserie fertigen, sondern müssen für jeden Hersteller an Sonderteilen basteln, was wiederum Investitionen in Entwicklung und Produktion hemmt. Auch die Batteriehersteller wünschen sich sehnlich eine Vereinheitlichung der Anforderungen von Schnittstellen, die technisch einfach zu bewerkstelligen wäre und große Chancen böte, Kosten durch höhere Stückzahlen zu reduzieren. Unter dem Strich heißt das: Die Elektroautohersteller verbauen sich selbst den Weg zur Gebrauchstauglichkeit.
Der Nutzen
Fest steht: Je unreifer eine Technik, je globaler der Markt, je größer die potenziellen Chancen einzelner Hersteller, desto komplexer wird der Moderationsprozess. Denn alle Beteiligten, besonders die Großen, wissen: Eine Einigung mit anderen Unternehmen auf technische Spezifikationen ist nicht der einzige Weg zum Erfolg.
Microsoft hat sich lange Zeit jeder Form von gemeinschaftlicher Standardisierung konsequent verweigert. Dafür hat das Unternehmen mit seinem Betriebssystem Windows einen eigenen De-facto-Standard gesetzt und seinen Gründer Bill Gates zu einem der reichsten Männer der Welt gemacht.
Solange Apple-Kunden bereit sind, für schön gestaltete Ladegeräte tief in die Tasche zu greifen, ergibt Standardisierung oberhalb der technischen Basisanforderung für den Konzern keinen Sinn. Zumal es dem Unternehmen gelingt, gerade bei solchen, für Nutzer eigentlich unpraktischen Kleinigkeiten seine Andersartigkeit zu betonen und einen Anreiz zu setzen, die gesamte digitale Ausstattung bei Apple zu kaufen.
Ulrike Bohnsack, Ingenieurin für Verfahrenstechnik und Mitglied der Geschäftsleitung im Deutschen Institut für Normung, findet es „überhaupt nicht tragisch“, wenn Apple nicht mit Samsung kann oder umgekehrt. Sie sagt: „Gott sei Dank ist Normierung immer ein freiwilliger Akt: die Suche nach Gemeinsamkeiten zum betriebs- und volkswirtschaftlichen Vorteil.“ Ihr Ziel ist es, diese Vorteile bei erfolgreicher Suche nach den Gemeinsamkeiten zu benennen und zu quantifizieren. Die Einigung auf Maßeinheiten ist für Bohnsack der Kern der Norm: Nur wenn alle Techniker das Gleiche meinen, wenn sie vom Gleichen sprechen, wird auch Kooperation möglich.
In einem zweiten Schritt stellen Gremien den Stand der Technik fest. Diese Referenz erleichtert all jenen die Arbeit, die kooperieren wollen. In den Normungszirkeln auf nationaler, europäischer und globaler Ebene engagieren sich deshalb vor allem Unternehmen, deren Geschäftsmodelle auf Schnittstellen beruhen (mittelständische Maschinenbauer, Medizintechniker, Elektrohersteller, Logistiker), die viel mit Zulieferern arbeiten und den Wettbewerb unter diesen schätzen (Automobilhersteller), oder Konzerne, die technische Infrastrukturen errichten (Telekommunikation, Energienetze, Schienenverkehr).
Einigen sich die interessierten Kreise auf einen Stand der Technik, wird diese offizielle Norm mit den dazu erstellten Dokumenten automatisch öffentlich. Im Unterschied zu Patenten ist sie nicht geschützt. Im Gegenteil: Die möglichst schnelle und großflächige Verbreitung von technischen Standards ist ja gerade der Zweck der Übung. Fließen Patente mit Einverständnis des Patentinhabers als Grundlagen in Normen ein, was hin und wieder vorkommt, muss der Inhaber sein Patent „fair und nichtdiskriminatorisch“ lizensieren. Das heißt in der Praxis fast immer: kostenlos für alle.
Die Verbreitung von technischem Wissen wiederum ist nach Kapital und Arbeit der dritte große Produktionsfaktor, der für Wachstum sorgt. Robert M. Solow konnte diese Wachstumsimpulse in den Fünfzigerjahren erstmals mit Formeln modellieren – wofür er später den Nobelpreis bekam. Auf Solows mathematischen Spuren wandeln heute die Institute, wenn sie die volkswirtschaftliche Wirkung der Normung errechnen.
Die Zahlen, die dabei herauskommen, sind beeindruckend hoch: In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts waren es allein in Deutschland rund 16 Milliarden Euro jährlich. Das entspricht in etwa 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dabei sind die Nutzen durch verhinderte Unfälle am Arbeitsplatz oder höhere Lebensqualität durch strengere Umweltschutzstandards noch nicht einmal eingerechnet. „Normung ist unter dem Strich ein gutes Geschäft für alle Beteiligten“, sagt Ulrike Bohnsack.
Briefing Industrie 4.0
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