Das Wettbewerbsrecht kann nach der heute gültigen Rechtsauffassung ausschließlich ex post im Rahmen der Missbrauchsaufsicht eingreifen und Unternehmen nur dann zu mehr Interoperabilität zwingen, wenn sie ihre marktbeherrschende Stellung missbräuchlich ausgenutzt haben. Dies sind hohe Anforderungen. Selbst marktbeherrschende Unternehmen können nicht bedingungslos zur Interoperabilität verpflichtet werden. Sie haben aber eine besondere Strukturverantwortung für die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs. Diese Interessensabwägung ist tief in der europäischen, aber auch der deutschen Wettbewerbsordnung verankert. Es besteht die Notwendigkeit einer Abwägung zwischen Eigeninteresse und Strukturverantwortung marktbeherrschender Unternehmen.[1]
EU-Recht: Ausgangspunkt „Essential Facility“
In der wettbewerblichen Diskussion über die Macht von Plattformen spielt vor allem die Frage eine Rolle, ob im konkreten Fall die Plattform eine monopolistische „Bottleneck“-Einrichtung („essential facility“) ist.[2] Verlangt wird, dass Inhaber von Netzmonopolen Dritten diskriminierungsfreien Zugangs gewähren müssen. Bei dem zweiten Szenario werden Plattformen als nicht wettbewerbseinschränkend interpretiert, weil sie über interoperable Schnittstellen den diskriminierungsfreien Zugang Dritter erlauben. Hier stellt sich ein zentrales Bewertungsproblem: Wann ist eine Schnittstelle hinreichend offen?
Der zentrale Anknüpfungspunkt von kartell- und regulierungsrechtlichen Pflichten und Verboten ist der Begriff der Marktmacht. Dabei kann zwischen Marktbeherrschung (etwa Art. 102 AEUV, §§ 18, 19 GWB, §§ 10, 19, 25, 28 PostG), beträchtlicher Marktmacht (vgl. §§ 9 ff., 19 ff., 27 ff. TKG) sowie relativer oder überlegener Marktmacht i.S.d. § 20 GWB unterschieden werden. In der Praxis wird die Marktmacht indirekt über die Feststellung von Marktanteilen vorgenommen. Ansatzpunkt bildet hier die Abgrenzung des relevanten Marktes. Im Hinblick auf die Plattformmärkte bedeutet dies, dass dort für jeden einzelnen Kundenkreis eigenständige Teilmärkte identifiziert werden müssen. Denkbar sind Differenzierungen in
- Märkte für die Internetsuche, für die Listung in Suchmaschinen oder für platzierte Werbung
- Horizontale (Google) oder vertikale (Amazon, HRS) Suchmaschinen
Wichtig sind vor allem die Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Marktseiten der zu untersuchenden Plattformen, die kartellrechtlich nur schwer greifbar sind. Unentgeltliche Angebote – zum Beispiel eine Suche – sind nur deswegen möglich, weil Nutzer ihre Daten zur Verfügung stellen.
Im Kern dieser Überlegungen stehen „wesentliche Einrichtungen“, die für ein Unternehmen die Voraussetzung darstellen, um einen Markt bearbeiten zu können. Eine wesentliche Einrichtung stellt einen Inputfaktor dar, zu dem es keine Alternative gibt, ohne den ein Angebot nachfolgender Produkte nicht erfolgen kann und der mit angemessenen Mitteln auch nicht zu beschaffen ist. Unternehmen, die eine solche wesentliche Einrichtung kontrollieren, haben zumindest diesbezüglich eine Monopolstellung. Insoweit wird auch von monopolistischen Bottleneck-Einrichtungen[3] gesprochen. Damit sind normalerweise vor allem Infrastruktureinrichtungen wie Leitungs- und Schienennetze, Häfen oder Landerechte auf Flughäfen gemeint[4]. Aber auch geistiges Eigentum wie Schnittstellen zwischen IKT-Systemen können „wesentliche Einrichtungen“ sein.[5] Unternehmen mit solchen wesentlichen Einrichtungen können anderen Unternehmen durch die Verweigerung des Zugangs die Teilnahme am Wettbewerb auf Folgemärkten verwehren. Das ist eine Form des Behinderungsmissbrauchs.[6] Dabei handelt es sich wie bei einer Kopplungsbindung um den Versuch eines Unternehmens, seine Monopolmacht über die wesentliche Einrichtung auf vor- oder nachgelagerte Märkte zu übertragen.
Das Konzept der wesentlichen Einrichtungen bezieht sich auf Unternehmen, die marktbeherrschend sind, weil sie eine wesentliche Einrichtung kontrollieren, das heißt ein Eingangsprodukt (Input), das für einen Marktzutritt auf einem vor- oder nachgelagerten Markt unerlässlich ist. Ein solches Unternehmen darf seine Position nicht ausnutzen, indem es einen möglichen Zugang zu der wesentlichen Einrichtung auf vorgelagerter Ebene verweigert und dadurch wirksamen Wettbewerb auf der nachgelagerten Ebene ausschließt.[7]
In der Praxis: Der Microsoft-Fall
2004 erließ die EU-Kommission eine Missbrauchsverfügung auf Grundlage Art. 82 EG gegen Microsoft, in welcher ein Rekordbußgeld in Höhe von rund 497 Mio. Euro verhängt wurde. Die europäische Kommission stellte bei Microsoft den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 82 EG fest, da Microsoft die Kompatibilität seiner Software mit der Software konkurrierender Unternehmen durch Geheimhaltung der Schnittstelleninformationen bewusst eingeschränkt habe. Microsoft solle durch Preisgabe der erforderlichen Schnittstelleninformationen Datenaustausch und Zusammenwirken von Microsoft-Betriebssystemen und -Serverprogrammen anderer Hersteller ermöglichen (Interoperabilitätsverfügung).[8]
Microsoft wurde darüber 2007 zur Offenlegung von Schnittstelleninformationen verpflichtet. Da Wettbewerber lediglich die Beschreibung der Schnittstellen, jedoch nicht deren Anwendung zugänglich gemacht bekämen, ließ der EuG den Einwand des urheberrechtlichen Schutzes nicht zu. Microsoft habe außerdem nicht darlegen können, warum die Offenlegung der Schnittstelleninformationen – wie behauptet – den Grad die Motivation zur Innovation von Microsoft einschränke.[9] Auch sah das Gericht keine Verletzung der geltend gemachten Rechte des „Geistigen Eigentums“ aufgrund der Veröffentlichung dieser Informationen.
In der Entscheidung wird allerdings betont, dass es marktbeherrschenden Unternehmen grundsätzlich freisteht, ihr geistiges Eigentum alleine zu nutzen und sich ihre Vertragspartner selbst auszusuchen. Nur beim Vorliegen außergewöhnlicher Umstände kann eine Verweigerung des Zugangs als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung untersagt werden. Das ist dann der Fall, wenn
- die Lizenzierung unerlässlich für den Zugang zu einem benachbarten Markt ist,
- eine Verweigerung des Zugangs jeden wirksamen Wettbewerb ausschließt und
- dadurch das Erscheinen von neuen Produkten verhindert wird.[10]
Liegen kumulativ diese drei außergewöhnlichen Umstände vor, ist die Lizenzverweigerung missbräuchlich, wenn sie nicht ausnahmsweise objektiv gerechtfertigt ist. Bei dieser objektiven Rechtfertigung müssen die angeführten Argumente der Verletzung von geistigen Eigentumsrechten und der Förderung des Wettbewerbs gegeneinander abgewogen werden. Selbst die Weigerung eines Unternehmens in marktbeherrschender Stellung, Dritten eine Lizenz für die Nutzung eines durch ein Recht des geistigen Eigentums geschützten Erzeugnisses zu erteilen, kann als solches keinen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne von Art. 82 EG darstellen.
Deutsches Wettbewerbsrecht
Im deutschen Wettbewerbsrecht wurde im Rahmen der sechsten GWB-Novelle im Jahr 1999 unter anderem der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung als echter Verbotstatbestand in § 19 GWB aufgenommen. Insbesondere wurde Verweigerung des Zugangs zu eigenen Einrichtungen – namentlich zu eigenen Netzen und anderen Infrastruktureinrichtungen – in den Missbrauchskatalog des § 19 Abs. 4 GWB neu aufgenommen.[11] Der deutsche Gesetzgeber wollte damit in Anknüpfung an die gemeinschaftsrechtliche Praxis zu Art. 82 EGV zur sog. Essential Facilities Doctrine (EDF) eine einheitliche Regelung einfügen.[12] § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB spricht ausdrücklich von „eigenen Netzen oder anderen Infrastruktureinrichtungen“.
Der Anwendungsbereich des § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB umfasst damit physische wie auch nicht-physische Einrichtungen und somit auch so genannte virtuelle Infrastruktureinrichtungen. Dazu können technische Standards oder Programmplattformen (zum Beispiel die d-box) gehören, ebenso Daten oder Informationen.[13] Die Verengung in § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB auf Netze und andere Infrastruktureinrichtung schränkt den Anwendungsbereich der „wesentlichen Einrichtungen“ insoweit ein, als „Ansprüche auf Nutzung fremder gewerblicher Schutzrechte nicht [auf Grundlage der Essential Facility Doctrine] begründet werden sollen“.[14]
Die historische und die teleologische Auslegung von § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB ergibt, dass zumindest Infrastruktureinrichtungen als wesentliche Einrichtungen i. S. d. § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB zu verstehen sind; in Konsequenz bedeutet dies aber, dass auch IKT-Plattformen bis zu einem gewissen Grad dem Tatbestandsmerkmal der „wesentlichen Einrichtung“ unterfallen können, bei welchem eine Zugangsverweigerung missbräuchlich sein kann.
[1] So Ernst-Joachim Mestmäcker | Heike Schweitzer (2004): Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Auflage, Art. 82 Rn. 39ff. Eine Einschränkung erfährt diese Grundsatzposition nur bei externen Unternehmenswachstum, das durch die Fusionskontrolle untersagt werden kann. Nach deutschem Recht sind Unternehmenszusammenschlüsse zu untersagen, wenn eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird. Sie können ausnahmsweise erlaubt werden, wenn sich dadurch die Wettbewerbsbedingungen verbessern. In der EU gibt es ähnliche Regeln, die an dem Aufgreifkriterium der Marktbeherrschung ansetzen, Günter Knieps (2008): Wettbewerbsökonomie: Regulierungstheorie, Industrieökonomie, Wettbewerbspolitik, S. 130f.
[2] Kerber, Wolfgang | Ulrich Schwalbe (2007): Ökonomische Grundlagen des Wettbewerbsrechts. In Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht. Bd. I, Hrsg. Franz Jürgen Säcker und Frank Montag: Tz 1461ff); Günter Knieps (2008), S. 103ff.
[3] Günter Knieps (2008), S. 103.
[4] Das Konzept der Essential Facilities-Doktrin wurde zu ersten Mal in den USA in einem Urteil des Supreme Court im Jahr 1912 angewendet. Ein Gemeinschaftsunternehmen kontrollierte den wichtigen Transitbahnhof von St. Louis und war damit in der Lage, anderen Eisenbahngesellschaften die Durchfahrt zu verweigern. Der Supreme Court ordnete aufgrund fehlender Ausweichmöglichkeiten an, Dritten Zugang zu der Essential Facility zu gewähren.
[5] Der wesentliche Punkt liegt also darin, dass es sich bei den zu untersuchenden Schnittstellen um eine alternativlose Bottleneck-Einrichtung sein muss, ohne die ein Wettbewerber keine Chance hat, am Wettbewerb teilzunehmen. Dabei ist es zunächst unerheblich, ob es um eine Plattform oder um eine andere Software (Anwendungen) geht. Vor allem Plattformen können wesentliche Einrichtungen sein, denn sie sind für die Verbindungen der Systeme verantwortlich.
[6] Ingo Schmidt (2005): Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, 8. Auflage, S. 175.
[7] Vgl. EuG, Urteil vom 17. September 2007, T-201/04 – Microsoft.
[8] Körber, Heft 5/2005. (http://www.recht.uni-jena.de/z02/Materialien/Pub/Koerber,%20K&R%202005,%20193.pdf)
[9] Anwendung des Art. 102 AEUV auf die Pflicht zur Offenlegung von Schnittstelleninformationen durch Zwangslizenzen in der Microsoft Entscheidung des EuG (Rs. T-201/04). (http://www.e-recht24.de/news/wettbewerbsrecht/631.html)
[10] EuG, 17.9.2007, Rs T-201/04, Rn. 331.
[11] Nach § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB liegt ein Missbrauch dann vor, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen sich weigert, „einem anderen Unternehmen gegen angemessenes Entgelt, Zugang zu den eigenen […] Infrastruktureinrichtungen zu gewähren und es dem anderen Unternehmen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ohne die Mitbenutzung nicht möglich ist, auf dem vor- oder nachgelagerten Markt als Wettbewerber des marktbeherrschenden Unternehmens tätig zu werden.“.
[12]. Begr. RegE, BT-Drucks. 13/9720 S. 36.
[13] Frankfurter Kommentar-Weyer, § 19 GWB, Rn. 1039.
[14] Beschlussempfehlung des BT-Wirtschaftsausschusses, BT-Drucks. 13/10633 S. 95.