Interview mit Henning Kagermann, Präsident der acatech

Acatech PortrŠtsFoto: Andreas Heddergott

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Ansgar Baums: Herr Professor Kagermann – Sie haben die „Plattformisierung der Wirtschaft“ früher als viele andere als politisches Thema erkannt. Ihr erstes politisches Engagement in diesem Bereich war das Forschungsprojekt THESEUS im Jahr 2006, oder? Damals gab es Diskussionen, welche Rolle der Staat bei so einem Projekt spielen solle. Wie bewerten Sie rückblickend THESEUS und die Diskussion zur Rolle des Staates bei der Plattformisierung?

Henning Kagermann: THESEUS war ein Leuchtturmprojekt zur Digitalisierung der Dienstleistungen und die konsequente Folge des ersten IT-Gipfels im Jahr 2006. Es sollte führende Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft zusammenzubringen, die gemeinsam Grundlagen für neue Suchtechnologien und integrierte IKT-Services für das Internet der nächsten Generation entwickeln. Im THESEUS-Projekt entstanden Kompetenzen, auf die wir heute, wo das „Internet der Dinge“ mit der Industrie 4.0 und vielfältigen Smart Services immer konkreter wird, aufbauen. So wurden im Rahmen von THESEUS semantische Technologien untersucht, maschinelles Lernen und die digitale Modellierung von Produkten und Nutzern. Wir beschäftigten uns aber auch mit den Auswirkungen dieser neuen Technologien auf Privatsphäre und Sicherheit. Diese Erkenntnisse bildeten die Basis für Anschlussprojekte wie Industrie 4.0.

Kritisch anmerken muss man aber, dass aus THESEUS keine Umsetzung folgte, es gab keine Anwendungsbeispiele und Projekte, die im großen Maßstab ausgerollt wurden. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass Projekt hätte fokussierter und anwendungsorientierter sein müssen.

Ansgar Baums: Sie haben immer betont, dass Industrie-Plattformen kein IT-Phänomen sind, sondern die gesamte Wirtschaft betreffen. Vor diesem Hintergrund sind Ihre Erfahrungen als Koordinator der Nationalen Plattform Elektromobilität interessant. Wie würden Sie die NPE in diesem Kontext einordnen – was leiten Sie aus der NPE für andere Branchen als „Learning“ ab?

Henning Kagermann: In der Nationalen Plattform Elektromobilität arbeiten alle Stakeholder mit. Elektromobilität betrifft ja nicht allein die Automobilindustrie, sondern auch die Energiebranche beim Stichwort Ladeinfrastruktur, die IKT-Branche für eine vernetzte, kundenorientierte Mobilität, die Chemie für die Batteriezellen oder Metall und Metallverarbeitung für den Leichtbau. Die vorwettbewerbliche Kooperation dieser Branchen inklusive der Verbände, Wissenschaft, Gewerkschaften und NGOs ermöglicht die Konsortialbildung entlang der kompletten Wertschöpfungskette, ohne die wir bei der Marktvorbereitung nicht so weit gekommen wären.

Und sie ermöglicht die Entwicklung der Elektromobilität als System, inklusive der dazugehörigen Normen und Standards. Letztlich ermöglicht diese vorwettbewerbliche Kooperation, dass Deutschland in eine Richtung vorangeht und mit einer Stimme spricht.

Die NPE verfolgt dabei einen ganzheitlichen Ansatz von der Entwicklung eines F&E-Programm für sieben Branchen bis hin zur Gesetzgebung. Der Erfolg zeigt sich an den Reaktionen unserer Mitglieder. Seit fünf Jahren gibt es die Plattform nun, alle beteiligten Akteure sind eng bei der Sache, und alle wollen weitermachen.

Natürlich kann die NPE nur Empfehlungen aussprechen. Wie weit diese von den Akteuren – Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Bund, Länder und Kommunen – umgesetzt werden, ist eine andere Frage. Doch sie hilft sehr dabei, eine gemeinsame Strategie zu finden, Henne-Ei-Probleme zu vermeiden und das Fundament für Vereinbarungen zu schaffen, die von allen eingehalten werden.

Ansgar Baums: Manchmal hat man das Gefühl, dass Forschungs-Leuchtturmprojekte eine Ersatzhandlung für etwas anderes ist. Ist Forschungspolitik, die auf Plattform-Technologien zielt, Industriepolitik mit untauglichen Mitteln?

Henning Kagermann: Wenn Plattformen nur Meetings ohne Resultate bedeuten, mag das stimmen. Doch funktionierende Plattformen sind heute ein notwendiges Element moderner Industriepolitik. Disruptive Schlüsselinnovationen betreffen mehrere Branchen, die gut beraten sind, vorwettbewerblich zu kooperieren. Sie erfordern den Dialog von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft, denn sie lassen sich weder von oben herab dekretieren, noch lassen sie sich abwählen. Das gilt im Zeitalter der Industrie 4.0 und der Smart Services für die Zukunft der Mobilität ebenso wie für die Zukunft der Wirtschaft allgemein. Es kommt darauf an, alle Beteiligten mitzunehmen. Partizipation ist wichtig. Politikgetriebene Dialog-Plattformen für den gesellschaftlichen Dialog und wirtschaftsgetriebene Umsetzungsplattformen für die zügige Erprobung und Entwicklung lohnen sich.

Ansgar Baums: Die politische Agenda zu „Industrie 4.0“ ist nach wie vor schwer greifbar. Brauchen wir hier klassische Ordnungspolitik, die Rahmenbedingungen verbessert – oder eine Politik, die darüber hinaus geht? Der Aufbau von Plattformen hat ja durchaus Ähnlichkeiten zur Infrastrukturpolitik.

Henning Kagermann: Industrie 4.0 wird nur ein Erfolg, wenn die kleinen und großen Unternehmen gleichermaßen mitziehen und wir die Menschen mitnehmen. Die Bundesregierung hat daher mit der Neugründung der „Plattform Industrie 4.0“ die Initiative ergriffen. Die Plattform soll die Kooperation der Beteiligten und den gesellschaftlichen Dialog fördern. Nur so verankern wir Industrie 4.0 in großen Unternehmen, im Mittelstand, bei Start-ups, aber auch bei den Bürgerinnen und Bürgern, für die entsprechende Aus- und Weiterbildung immer wichtiger wird.

Für den Erfolg der Industrie 4.0 und der neuen Geschäftsmodelle, den Smart Services, brauchen wir darüber hinaus eine moderne Infrastrukturpolitik. Dazu gehört etwa der Ausbau der Breitbandnetze und des Mobilfunkstandards 5G – aber auch ein europäischer Digitaler Binnenmarkt und der Schutz von Daten und geistigem Eigentum. Nur Infrastruktur aufzubauen, ohne Plattformen zu schaffen, die Anbieter, ihre Daten und ihre Produkte vernetzen, bleibt wirkungslos.

Ansgar Baums: Zum Abschluss eine praktische Frage: Welchen Tipp würden Sie einem Manager eines mittelständischen Unternehmens geben, der zwar ahnt, dass sich sein Geschäftsmodell durch die Digitalisierung grundlegend wandeln wird, aber nicht so recht weiß, wie er es angehen soll?

Henning Kagermann: Vorstände sollten die Digitalisierung zu ihrer ganz persönlichen Sache machen. Führungskräfte sollten Innovationschampions sein. Laut DIHK-Unternehmensbarometer sehen beispielsweise nur etwas mehr als die Hälfte aller Mittelständler in Deutschland Qualifizierungsbedarf, um die eigenen Mitarbeiter fit zu machen für Industrie 4.0.

Dabei sollten Manager bei der Digitalisierung und ihren Auswirkungen auf die eigene Firma vom disruptivsten Szenario ausgehen: alle digitalisierbaren Aspekte ihres Geschäftsmodell werden früher oder später digitalisiert. Dieser schonungslose Ansatz ist extrem wichtig. Was andere Branchen wie Medien oder der Buchhandel bereits durchlebt haben, trifft jetzt unsere industriellen Kernbranchen.

Die nächsten Fragen lauten dann: Wie kann ich mich Schritt für Schritt an die neuen Gegebenheiten anpassen? Kann ich vielleicht sogar neue Geschäftsfelder erschließen? Ganz praktisch heißt das, als CEO nehme ich Kontakt zu den existierenden Plattformen auf und informiere mich: Was sind die Best Practices in meiner Branche, wie kann ich mich in den bestehenden Plattformen engagieren und welche Teile meiner Produkte kann ich dort integrieren? Über die Kooperation in den Plattformen gelingt der Blick über den eigenen Tellerrand, man lernt unglaublich viel – und vielleicht kommt sogar eine Idee heraus, die weit über die inkrementelle Verbesserung des eigenen Geschäftsmodells herausgeht

Ansgar Baums: Vielen Dank!

 

Prof. Dr. Henning Kagermann promovierte und habilitierte sich in Theoretischer Physik an der TU Braunschweig, die ihn zum außerplanmäßigen Professor für Theoretische Physik ernannte. 1991 wurde er in den Vorstand der SAP AG berufen, den er von 1998 bis 2009 leitete. Seit 2009 ist Professor Kagermann Präsident von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften. 2010 wurde er von der Bundesregierung zum Sprecher der Promotorengruppe Kommunikation in der Forschungsunion berufen. Dort entstand die Vision des Zukunftsprojektes Industrie 4.0.

 

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