Industrie 4.0: Warum ein „Weiter so“ gefährlich ist.

1  Der digitale Tsunami

Wir haben uns an Erfolgsmeldungen über die Stärke der deutschen Wirtschaft gewöhnt. Sinkende Arbeitslosenzahlen und volle Auftragsbücher (vor allem für die exportorientierten Unternehmen) scheinen dies zu belegen. Diese Erfolge könnten sich allerdings als kurzlebiger erweisen als von vielen gedacht. Es sind nicht nur geopolitische Frakturen, die der global orientierten deutschen Wirtschaft das Leben schwerer machen werden. Es ist vor allem der „digitale Tsunami“, der sich ankündigt.

Wir haben die Digitalisierung zu lange als „Nice to Have“-Thema diskutiert. Die Digitalisierung ist ein umfassender, disruptiver Prozess. Disruptiv meint: Es wird viele Verlierer geben, auch unter den „Stars“ der deutschen Wirtschaft.

2  Zwei typische Reaktionsmuster: Der Luddit und der „Weiter-So“

Eine solche Botschaft ist per se unpopulär. Kein Wunder, dass zwei abwehrende Reaktionsmuster weit verbreitet sind:

  • Der Digital-Luddit kämpft gegen die Digitalisierung, weil sie sein Geschäftsmodell bedroht. Der Digital-Luddit spannt gerne die Politik ein und wirbt für einen Schutzschirm gegen das Digitale. Er tut dies, indem er nicht die Bedrohung für die eigene Bilanz, sondern „das große Ganze“ adressiert. Die Musikindustrie beschwor den Untergang der Kultur, das Taxigewerbe den Beginn des Wilden Westens auf deutschen Straßen, die Zeitungen das Ende des Qualitätsjournalismus. Die Politik reagiert auf diesen Druck nur allzu oft zu nachsichtig und lässt sich vor den Karren spannen (vgl. Leistungsschutzrecht).

Der Digital-Luddit ist ein hoffnungsloser Fall. Sein Unternehmen kann nicht gerettet werden – erst recht nicht durch Gesetze und Verordnungen.

  • Der „Weiter-so“ geht von seinen heute wunderbar funktionierenden Produkten und Dienstleistungen aus und sieht die Digitalisierung vor allem als Adaptionsproblem. Er experimentiert mit Technologie – ohne den gesamten Kontext seines Geschäftsmodelles zu betrachten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich dieser Vorstand als digitale Avantgarde wahrnimmt, da er und sein Unternehmen in diese Technologien investieren. Und da das Unternehmen womöglich über einen sehr hohen technologischen Standard in ihrem Kernsegment verfügt, fühlt sich der Vorstand gut gerüstet. Der „Weiter-so“ ist auch ein gern gesehener Gesprächspartner der Politik, da er für das Versprechen eines kontinuierlichen – nicht disruptiven! – Erfolges steht. Die populäre Forderung des „Stärken stärken“, die ursprünglich mal als Konzept der Steuerung staatlicher Fördermittel Eingang in die politische Diskussion fand, ist zur „weiter so-Strategie“ umgedeutet worden.

Der „Weiter-so“ wird womöglich zu den Verlierern der Digitalisierung gehören. Er wird rückblickend erkennen, dass die Digitalisierung sein Geschäftsmodell wesentlich fundamentaler angreift als ursprünglich gedacht. Sein Hauptproblem ist das „Innovators Dilemma“: Seine heutigen Produkte und Dienstleistungen sind zu erfolgreich, um innerhalb des Unternehmens und seiner Shareholder radikalen Wandel durchsetzen zu können. So wird der Erfolg in der Gegenwart zum ärgsten Feind einer erfolgreichen Zukunft. Heutige Stärken schwächen die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens – eine hochgefährliche Situation.

3  Die neuen Spielregeln: Zu beobachten in Ihrer Jackentasche

Es gibt guten Grund, paranoid zu sein. Die große Herausforderung der Digitalisierung ist: Sie verändert die Spielregeln des Wettbewerbs, nicht nur die Produkte. Bislang sind Märkte als „Produkt-Pipelines“ strukturiert – ein Unternehmen stellt alleine oder in Kooperation mit anderen ein Produkt oder eine Dienstleistung her und vertreibt diese in einem exklusiven Vertriebskanal. Dieses Marktmodell ist so alt wie Industrialisierung selbst.

Die neuen Spielregeln kann jeder beim Blick in seine Jackentasche nachvollziehen: Das Betriebssystem und der App-Store des Mobilfunkgeräts stellt die neue Marktarchitektur digitaler Plattformen in Reinform dar. Digitale Plattformen weisen eine besondere Marktstruktur auf: Sie bestehen aus einem Kern (Betriebssystem), der die technischen und betriebswirtschaftlichen Spielregeln festlegt, sowie einer „Peripherie“, in der Applikationen angeboten werden (zum Beispiel die Programme im „App-Store“ von Android oder Apple).[1] Die Plattform ist ein natürliches Monopol, das starken Netzwerkeffekten unterliegt: Je mehr Angebote in der Peripherie entstehen, umso attraktiver wird die Plattform für den Endkunden. Die Peripherie wird so zu einem „Ökosystem“, das umso attraktiver wird, je weiter es wächst.

Diese Marktarchitektur gehört zur DNA der digitalen Wirtschaft. In der IT-Branche gibt es sie schon drei Jahrzehnte lang: der PC, Spielekonsolen oder das Internet selber funktionieren nach dem immer gleichen, sich selbst replizierenden Muster – zum Teil in einander geschachtelt. Digitale Plattformen können verschiedene Charakteristika aufweisen – eher geschlossen (wie Mobiltelefon-Betriebssysteme und Spielekonsolen) oder eher offen (wie der PC). Sie können von einem einzelnen Unternehmen oder von Konsortien (zum Beispiel der GSM-Standard) betrieben werden. Die grundliegende Architektur und die ökonomischen Gesetze eines „Two-Sided Markets“ gelten jedoch für alle digitalen Plattformen.

„Industrie 4.0“ ist nichts anderes als der Export der Plattform-Struktur in das produzierende Gewerbe –  ein Markt, in dem deutsche Unternehmen bislang höchst erfolgreiche Pipeline-Geschäftsmodelle betrieben haben: im Maschinen- und Anlagenbau bilden sich Plattformen zur Integration der „Smart Factory“ in ein umfassendes Logistiknetz. Die Automobilwirtschaft diskutiert über e-Mobility-Plattformen und die Frage, wo in Zukunft all die gesammelten Daten zusammen laufen und wem diese Daten-Drehscheibe gehört. Das Taxigewerbe kann ein Lied davon singen, was „Plattformisierung“ in der Praxis heißen kann und mit welcher Vehemenz diese neue Marktstruktur existierende Geschäftsmodelle in Frage stellt. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

4  Follow the Money: Warum heute „Outreach“ mehr zählt als ein Monetarisierungsmodell

Die Finanzmärkte haben die Macht der Plattform-Architektur längst erkannt. Investoren finanzieren Unternehmen, die keine Monetarisierungsstrategie haben – aber den erfolgreichen Aufbau einer digitalen Plattform in einem interessanten Marktsegment versprechen. Beispiele wie Facebook zeigen, dass „Outreach“-Wachstum und „Plattform-Phantasie“ für die Bewertung eines Start-Ups entscheidend ist, nicht etwa ein voll entwickeltes Geschäftsmodell – getreu dem Motto: Wenn eine Plattform erst mal etabliert ist, wird sich schon ein Geschäftsmodell finden.

Dieses Investitionsverhalten stößt bei vielen traditionell denkenden Wirtschaftspolitikern oder Industrie-Entscheidern auf Unverständnis – es gilt als unseriös. Ist Amazon, das in den letzten Jahren eine riesige Plattform aufgebaut hat, aber keine Gewinne erwirtschaftet hat, eine große Scharlatanerie? Oder aber wird sich bald schon herausstellen, dass ein Großteil deutscher Retail-Unternehmen, die zu lange auf ihre „Pipeline“ statt auf Plattformisierung gesetzt haben, einen teuren Preis bezahlt? Der Unterschied zwischen dem Otto-Versand, und Amazon ist eine Plattform-Strategie.

Deswegen stellt sich heute die dringende Frage: „Können“ deutsche Unternehmen Plattformen?

5  Gewinner und Verlierer der Plattformisierung

Plattform-Märkte sind kein „Level Playing Field“. Derjenige, der den Kern der Plattform kontrolliert, kann strategisch steuern und Monopolgewinne erzielen. Diejenigen, die in der Peripherie agieren, erlangen zwar durch die Plattform einen einfachen Kundenzugang (wie viele Millionen Euro müsste ein Handy-App-Entwickler in Werbung und Marketing investieren, um sein Produkt bekannt zu machen wenn es keinen „App-Store“ gäbe?) – aber sie in einer strategisch nachteiligen Position gegenüber dem Plattform-Kern. Hinzu kommt, dass in der Peripherie großer Wettbewerb herrscht – also geringere Margen erwirtschaftet werden.

Wertschöpfung wird sich in Zukunft anhand dieses Musters strukturieren: Hohe Wertschöpfung wird im Kern erzielt, geringere in der Peripherie. Für deutsche Hochtechnologieunternehmen ist diese Entwicklung eine besondere Herausforderung – bedeutet dies doch, dass in Zukunft nicht das Spitzenprodukt als solches hohe Margen garantiert. Überspitzt formuliert: Es wird in der Zukunft wenige Googles (=Plattformbesitzer) und viele ersetzbare Hardware-Hersteller geben, die ihre Produkte auf eine existierende Plattform „aufschalten“).

 

Für den Wirtschaftsstandort Deutschland wird entscheidend sein, wie viele der erfolgreichen „Pipeline“-Firmen in Deutschland zu Betreibern einer Marktplattform werden.

 

2 Kommentare
  1. Werner
    Werner sagte:

    Jein – kann man B2B und B2C produkte und Dienstleistungen einfach so in einen Topf werfen?
    Ich sehe schon einen Unterschied zwischen iPhone (für den Consumer) und dem Fertigungsroboter für den Automibilbau.

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  2. Ansgar
    Ansgar sagte:

    Das kommt wohl darauf an, wie man „in einen Topf werfen“ definiert. Die Unterscheidung zwischen B2B und B2C ist in vielen Branchen bereits hinfällig, insbesondere in „two-sided markets“, die typisch sind für die Plattformisierung. Ist Amazon B2B oder B2C? Was ist mit Google AdWords? Daran wird eine interessante Eigenschaft digitaler Plattformen deutlich: sie verbinden „C“ und „B“ auf eine neue Weise.

    Die Grundthese lautet: Plattformen sind die neue DNA der Wirtschaft – sie wird sich in allen Marktsegmenten widerspiegeln. Das lässt Raum für Marktsegment-spezifische Ausprägungen (sei es hinsichtlich der Offenheit der Plattform, der Betreiberfrage oder der Schachtelung von Plattformen), aber eben im Rahmen jenes grundsätzlichen Trends.

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